Das Bundesverfassungsgericht hat gestern entschieden: die Hartz-IV-Sätze für Kinder müssen nach gebessert werden. Jahrelang wurde Kindern ein prozentualer Anteil eines normalen Hartz-IV-Satzes für Erwachsene zugewiesen. Damit ist nun Schluss. Grotesk war es allemal. Im Hartz-IV-Beitrag für Erwachsene sind bspw. keine Ausgaben für Bildung vorgesehen. Für Kinder beträgt der prozentuale Anteil konsequenterweise dann ebenfalls 0 Euro. Hingegen sind bei einem Erwachsenen über 11 Euro für Tabak und Alkohol vorgesehen. Was diese Ausgaben bei einem Regelsatz für Kinder zu suchen hat, wussten wahrscheinlich nicht einmal die Politiker. Dass nun das Hartz-IV für Kinder umgeändert werden muss, ist allerdings nur die halbe Miete der politischen Arbeit. Die Probleme bei Hartz-IV liegen meiner Meinung nach ganz wo anders.
Wer von Hartz-IV lebt, lebt in einer gesellschaftlichen Parallelwelt. Man wird systematisch ausgegrenzt. Ebenso verliert man immer mehr den gesellschaftlichen Anschluss, da der Regelsatz keine großen Freizeitaktivitäten zulässt. Und man wird in gewisser Weise phlegmatisch. Monatlich kommt das Geld vom Jobcenter aufs Konto und mehr braucht man nicht tun. Ebenso wie das Geld kommt, wird es auch bis auf den letzten Cent wieder ausgegeben, für Essen, Getränke, ein bisschen Kleidung und hier und da ein Extravergnügen wie eine Kinokarte.
Das System Hartz-IV folgt strikten wirtschaftlichen Bahnen. Für den Staat sind die monatlichen Zahlungen in Milliardenhöhe ein unausweichliches Muss. Auf der anderen Seite ist diese Art der finanziellen Unterstützung eine berechenbare Wirtschaftsgröße. Der Staat weiß mit fast 100-prozentiger Sicherheit, wie hoch der Anteil der rückläufigen Steuern ausfällt. Ebenso ist klar, dass fast der komplette monatliche Beitrag sofort wieder in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebracht wird. Hartz-IV schafft in vielen wirtschaftlichen Bereichen für berechnete Sicherheit und Stabilität. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, wieso an dieser Systematik von staatlicher Seite so vehement festgehalten wird.
Problematisch ist nur, dass sich durch den Bezug von Hartz-IV ein gesellschaftliches Subsystems gebildet hat. Außenstehende halten Hartz-IV-Empfänger per se für arbeitsfaul und lustlos. In gewissen Diskussion fällt sogar das Wort Sozialschmarotzer. Damit sind Personen gemeint, die an sich voll arbeitsfähig wären,sich aber strikt gegen die Aufnahme einer geregelten Arbeit wehren. Unsere Medien unterstützen diesen Typus vom arbeitsfaulen Sozialempfänger noch zusätzlich. Für die Arbeiterklasse sind die Hartz-IV-Empfänger immer ein gern gefundenes Ziel, wenn es die hohen Sozialausgaben (des Staates) geht. Bestimmt haben Sie auch schon den Satz gehört: „Wieso soll ich durch meine Arbeit dem sein faulen Leben unterstützen?“ An solchen Sätzen erkennt man, dass die soziale Unterschicht einen schweren Stand hat.
Das Problem ist aber nicht der Sozialhilfeempfänger, der sprichwörtlich von der Hand in den Mund lebt. Eigentlich ist es auch nicht der Arbeiter, der „brav“ seine Steuern zahlt. Das Problem ist ein grundsätzliches. Massiv unterstützt durch populistische Äußerungen unserer Politiker, wird uns immer wieder eingetrichtert, dass wir Deutschen ein Volk der Leistungsträger sind. Ein Land welches eines der höchsten Bruttoinlandsprodukte der Welt hat, darf und kann es keine faulen Menschen geben. Damit das soziale Gefüge nicht zu stark auseinander driftet, erfindet man die Sozialleistungen. Und immer zu wird uns erzählt, wie teuer dieses Sozialsystem ist. Laut einschlägigen Boulevardzeitungen ist der Dumme der ehrliche Arbeiter. Und „dank“ Zeitarbeitsfirmen schwindet für eine große Bevölkerungsgruppe immer mehr der Anreiz für die tägliche Arbeit. Quasi fürs Nichtstun bekommt man beim ALG-2-Regelsatz 359 Euro überwiesen. Geht man in einer Zeitarbeitsfirma für einen Stundenlohn von 8 Euro arbeiten, hat man am Ende des Monats nicht wirklich mehr Geld auf dem Konto, denn der Überschuss wird beim Bezug von ALG-2 zum größten Teil vom Staat wieder einkassiert. Für die individuelle Person betrachtet ist es ökonomisch sinnvoller, nicht arbeiten zu gehen. Wirtschaftlich betrachtet ist diese Vorgehensweise natürlich nicht ökonomisch sinnvoll. Also zwingt man die Arbeitslosen zum Arbeiten.
Die Gesellschaft hat ein strukturelles Denkproblem. Ca. 40 Prozent der Gesamtbevölkerung erreichen die Produktivität der ganzen Bevölkerung. Oder anders ausgedrückt: eine Person könnte/kann komplett zwei weitere Personen „miternähren“. Dies lässt sich allerdings politisch schwer verkaufen, wenn einzig und allein die Produktivität, das Wirtschaftswachstum und schlussendlich das Bruttosozialprodukt im Mittelpunkt stehen. Früher war die menschliche Produktivität niedriger und somit die humane Effektivität nicht ganz so hoch. Doch dieser Anteil ist durch die Industrialisierung immer weiter ansteigend.
Es muss ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden:
- Jemand der Hartz-IV bezieht, ist nicht zwangsweise faul. Es fehlt ihm/ihr nur die entsprechende Arbeit. Das arbeitende Volk sollte sich endlich von diesem Gedanken lösen, dass genügend Arbeit für alle vorhanden ist.
- Jemand der Hartz-IV bezieht, sollte vom gesellschaftlichen Leben nicht ausgeschlossen werden. Denn dadurch entwickelt sich das derzeitige Ansehen eines ALG-2Empfängers: Hartz-IV beziehen und sich dann auf die „faule Haut legen“.
Wieso ist es in Deutschland ein so großes Problem, Sozialhilfeempfänger in gesellschaftliche Aufgaben einzubeziehen? Wie wäre es mit sozialer Verantwortung? Beteiligung bei sozialen Projekten? Von Suppenküchen angefangen bis Schülernachhilfe. Aufgaben und Tätigkeitsfelder sind reichlich vorhanden. Doch der Sozialhilfeempfänger erwartet nicht ganz zu unrecht, für diese Tätigkeiten bezahlt zu werden. Doch mit einer Aufstockung auf den Hartz-IV-Regelsatz löst man noch lange nicht das grundsätzliche Problem: wie motiviert man Millionen von Menschen zu solchen Tätigkeiten? Wie schafft man es, bei Bevölkerungsschichten wieder an einen Tisch zu bekommen?
In Deutschland hat sich eine absolute Schräglage im Sozialsystem entwickelt. Auf der einen Seite kann sich der Staat diese immensen Ausgaben leisten, da die Produktivität der arbeitenden Bevölkerung so hoch ist. Auf der anderen Seite hat man aber auch (bewusst!?) eine soziale Hängematte geschaffen, die zum Nichtstun motiviert. Dies führt wiederum zu dem Konflikt mit der arbeitenden Gruppe. Wer Geld vom Staat bezieht und nichts dafür tut, ist in den Augen eines Arbeiters eine „faule Socke“. Schwarz-Weiß-Denken ist einfach und populär. Doch solch eine Denke produziert soziale Spannungen. Dass unsere Regierung(en) an diesem Klima nicht unbeteiligt sind, liegt auf der Hand.
Die spannende Frage ist und bleibt: wie verkauft man dem Volk die bittere Wahrheit über den Sozialstaat? Wie macht man der arbeitenden Gruppe klar, dass ihr wirtschaftlicher Anteil die nicht arbeitende Bevölkerung locker mit ernähren kann? Bisher hat noch jede Regierung sich davor gekniffen. Nicht einmal eine ungezwungene Diskussion zu dieser Thematik wird geführt. Denn die wirtschaftlichen Folgen wären fatal. Eine Umkehr aus dieser strikten Trennung aus arbeitender und arbeitsuchender Bevölkerung wäre auch eine Abkehr weg vom lieb gewonnenen Kapitalismus. Dieser Schritt ist wohl selbst für die radikalsten Linken ein Schritt zu viel. Denn am Ende steht die Gleichmacherei eines ganzes Volkes. Wer oben steht und die nötige Macht hat, wird über solche Gedanken wenig erfreut sein.