Höher, schneller, weiter. Kein anderer TV-Sender verfolgt so sehr dieses Kredo wie das privat finanzierte TV-Unternehmen RTL-Television. Doch wenn man ständig emotional immer einen drauf legen muss, wird das Produzierte sehr schnell unglaubwürdig, ja geradezu befremdlich grotesk. RTL befindet sich in einem Optimierungsdilemma. Auf der einen sollte das Programm dem Zuschauer gefallen, auf der anderen Seite erfordert die Werbevermarktung, sprich die Werbekunden, eine immer stärkere Optimierung.
Gestern am Montag startete die neue Staffel von „Einsatz in 4 Wänden„. Neuerdings nur noch als Spezial-Version. Tine Wittler moderiert sein Beginn der Serie den Umbau von Wohnzimmern und ganzen Wohnungen. Das Format startete 2003 recht harmlos mit der einfachen Renovierung von einzelnen Zimmern. Heute, 11 Jahre später, lockt man den Zuschauer nur noch vor den Bildschirm, wenn auf theatralische Art und Weise und medienwirksam ganze Häuser eingerissen und wieder komplett aufgebaut werden.
Persönliche Einzelschicksale gehören mittlerweile ebenso zum festen Programminhalt wie die mittellosen Besitzer an sich. Beide Elternteile kommen bei einem Autounfall ums Leben, Oma zieht 3 Enkel nur mit Milch und Brot groß, das Haus verfällt in den zurückliegenden 30 Jahren, ein Enkel wird zum Voll-Messi, der zweite Enkel züchtet 100 Ratten in seinem Zimmer und dem dritten Enkel wächst ein tödliches Geschwür am Hals. So könnte ein passender Plot für „Einsatz in 4 Wänden Spezial“ aussehen. Dann kommt die „dicke Tine“ eingeflogen, schaut erschrocken, reibt sich die in Lederhandschuhen verpackten Hände, und das Hau wird wenig später filmreif „gesprengt“. Dann kommen ein paar Handwerker und in entspannter Lage sieht man, wie ein ganzes Haus in wenigen Minuten entsteht. Die vom Schicksal gebeutelte Familie macht zwischenzeitlich das erste Mal Urlaub. Tine dekoriert noch ein paar Ecken; sie rückt dabei eine Vase um ein paar Zentimeter. Am Ende gibt es die große Begehung und etliche Rückblenden, dass hier und dort mal eine Wohnruine stand. Alle sind glücklich. Und wenn es der Produktionsgesellschaft gelingt, fließen auch ein paar Tränen.
Die Handlung ist immer die selbe. Die Schicksale sind austauschbar. Wenn jedoch keine toten Tiere mehr gefunden werden und das Haus nicht eingerissen wird, interessiert dies den Zuschauer nicht mehr. Die Quoten zeigen erste Ausfallerscheinungen. Um das Format noch zu toppen, müsste RTL eigentlich eine alte Burg sprengen, weil im Keller versteinerte Mammuts liegen und das morsche Holz und der alte Sandstein eh nicht mehr lange halten würden.
Ein anderes Problemfeld ist das alltägliche Nachmittagsprogramm. Mit irgend einem sinnfreien Inhalt wollen und müssen die Sender die Sendezeiten füllen. Zu schwer darf die TV-Kost nicht sein, zu seicht allerdings auch nicht. Denn die anvisierte Zielgruppe der 14- bis 49-jährige Zuschauer möchte irgendwie unterhalten werden. Dazu zählt ein bisschen Alltagskriminalität, Liebe und Hiebe, Intrigen und Beichten und der ganz normale Wahnsinn.
Von der Marke „Scripted Reality“ gibt es mittlerweile etliche Formate: „Verdachtsfälle„, „Betrugsfälle„, „Mitten im Leben“ oder „Familien im Brennpunkt„. Laiendarsteller agieren etwas unbeholfen in vorgegebenen Szenen, spielen eine willkürlich abstruse Geschichte und erzählen im sitzenden Halbprofil vor der Kamera eine kleine Zusammenfassung. Die Storys sind austauschbar. Die unliebsame Tochter macht mal wieder Probleme, weil sie nach 21 Uhr noch weggehen möchte. Der Vater hintergeht die Ehefrau mit einer anderen und streitet alles ab, als sich plötzlich die unliebsame Tochter einmischt. Und zu guter Letzt taucht auch noch der Freund von der Tochter auf und erzählt, dass er mit einer halben Million Euro zusammen mit der Tochter eine Reise nach Island und danach eine Herren-Boutique eröffnen möchte. Vielleicht ist er aber auch unerwartet schwul und plant eine Papstaudienz in Rom.
Das Problem bei Scripted Reality ist, dass man an der Wirklichkeit vorbei erzählt. Da die Realität meist öde langweilig ist, muss man passende Geschichten erfinden. Doch auch dabei muss man Stück für Stück immer exzessiver werden, damit der Zuschauer auf Dauer nicht der Langeweile verfällt. Ab einem gewissen Grad wird die geskriptete Wirklichkeit allerdings auffällig albern und überheblich. Stellenweise könnte man es jetzt schon als schlecht gemachte Comedy verkaufen.
RTL und die anderen Sender könnten zum Nachmittag auch eine automatisierte Dauerschleife des Computerklassikers Pong zeigen. Selbst dafür würden im Schnitt ca. 700.000 Zuschauer einschalten. Hauptsache es bewegt sich etwas in der Glotze und gibt Töne von sich.
Die wichtigste Sendung bei RTL ist und bleibt jedoch „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS). Die neunte Staffel verlief nicht nach den Erwartungen des Kölner Senders. Man kämpft mit einer schrumpfenden Aufmerksamkeit und damit auch mit rückgängigen Zuschauerqoten. Jegliche Änderung wie bspw. das Preisgeld von 500.000 Euro brachten nicht das gewünschte Ergebnis. Mit der zehnten Staffel soll nun grundsätzlich vieles optimiert werden: Thomas Gottschalk sitzt in der Jury, Moderator Marco Schreyl wird ausgetauscht, eine Frauenquote wird eingeführt und in den Live-Shows begleitet wieder ein Orchester die Kandidaten.
Das grundsätzliche Problem bleibt jedoch bestehen: das Land ist durchgecastet. Das Land hat sich auch satt gesehen an pickligen 18-Jährigen, die mit schiefer Stimme einen aktuellen Popsong ins Mikrofon pressen. Daher sind seit längerer Zeit die persönlichen Geschichten der Kandidaten wichtiger als deren Gesangskünste. Abgebrochene Ausbildung, Aufenthalt im Jugendknast oder generell familiäre Probleme sind primäre Voraussetzungen, um überhaupt zu den letzten 50 gehören zu dürfen. Wenn dann noch ein bisschen Kleinkrieg unter den Kandidaten herrscht, hier und da wegen purer Verzweiflung geheult wird oder sich innerhalb weniger Wochen wundersame Verbesserungen ergeben, ist der perfekte Superkandidat gefunden.
Da das Konzept nicht maßgeblich verändert werden kann, muss es optimiert werden. Doch wohin sollen die Veränderungen führen? Welche persönlichen Einzelschicksale sind noch nicht erzählt? Schwule waren ebenso in der Show wie Lesben, auch Strafgefangene und Hartz-4-Empfänger. Selbst mit Kleinkindern hatte man es zuletzt versucht („DSDS Kids“). Einfach so weitermachen wie bisher, kommt für RTL jedoch auch nicht in Frage. Der Marktanteil und damit die Werbeeinnahmen stehen auf dem Spiel. Ein Dilemma.
Ist der Zuschauer wirklich so dumm? Warum gibt es überhaupt einen Markt für diese „Scripted Reality“? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich dadurch unterhalten fühlt und ich glaube auch nicht, dass sich das irgendjemand angucken möchte. Sind diese Sendungen nicht einfach nur Träger von Sendezeit? Und wer guckt um die Mittags- Nachmittagszeit überhaupt fern? Ich weiss das ist radikal und wird nie funktionieren: Fernsehsender dürfen erst ab 16.00 Uhr auf Sendung gehen, und um 1:00 ist Sendeschluss. Das hat doch früher auch funktioniert.