Stuttgart 21 – Proteste gegen eine bessere Infrastruktur

Die Leute gehen wegen vielen Sachen auf die Straße zum Protestieren. Wenn Hartz-IV-Bezüge gekürzt werden sollen oder das Raucherverbot die Runde macht; Gründe gibt es genügend. Derzeit gibt es in Stuttgart nur ein großes Streitthema: Stuttgart 21 – oder auch Bahnprojekt Stuttgart-Ulm genannt. Im Rahmen eines milliardenschweren Bauprojektes der Deutschen Bahn AG und des Landes Baden-Württemberg soll der derzeitige Kopfbahnhof in Stuttgart in einen Durchfahrtsbahnhof umgebaut werden.

Es geht um sehr viel bei diesem Projekt, welches nach derzeitiger Planung 4 Milliarden Euro kosten wird:
– Umwandlung des Stuttgarter Hauptbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof
– 18 neue Tunnelröhren und 57 km neue Eisenbahntrassen
– Umwandlung der freiwerdende Gleisflächen (ca. 1 km² oberirdische Nutzfläche)
– neuer Fern- und Regionalbahnhof am Flughafen Stuttgart (Filderbahnhof)
– neuer Abstellbahnhof in Untertürkheim
– neue S-Bahn-Station Mittnachtstraße

Viele Bürger halten das Projekt für überzogen, als zu teuer und für völlig sinnfrei. Der jetzige Hauptbahnhof entspricht allerdings bereits seit Jahren nicht mehr dem Stand der Dinge. Zudem hat ein Kopfbahnhof baubedingte Nachteile:
– lange Umsteigewege
– lange Standzeiten der Züge
– vermehrter Platzbedarf durch die vielen Gleise
– generell längere Reisezeiten durch die Ein- und Ausfahrten
Bereits 1988 gab es erste Überlegungen, den Kopfbahnhof in einen Durchgangsbahnhof umzuwandeln, um diese strukturellen Nachteile zu beseitigen. In den Jahren entstanden diverse Varianten und Erweiterungen. So gehört zum Projekt Stuttgart 21 unter anderem der Neubau der Schnellfahrtstrecke Stuttgart-Ulm. Wer bereits einmal das Vergnügen hatte, mit dem ICE von Stuttgart nach Ulm (oder anders herum) zu fahren, wird sich die Neubaustrecke lieber morgen als heute wünschen. Die Fahrzeit soll sich von derzeit 60 Minuten auf unter 30 Minuten reduzieren.

Großprojekte wie dieses stoßen jedoch nicht bei jedem auf Zustimmung. Seit Wochen regt sich in Stuttgart erbitterter Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21. Es sei zu teuer, es bringe keine Vorteile, die Planung wäre mangelhaft, die Bauzeit nicht abschätzbar und es schade der Umwelt. Die Kritiker finden unter Kopfbahnhof-21 ihr entsprechendes Forum. Ich persönlich finde kritische Blickweisen gut. Auch sind sie legitim. Doch im Falle von Kopfbahnhof-21 werden teilweise irreführende Informationen verbreitet. Man darf an dieser Stelle erwähnen, dass Kopfbahnhof-21 vom BUND (BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland) koordiniert wird. Dieser Interessensverein hantiert mit Zahlen und Fakten ebenso eigennützig und einseitig wie die Projektkoordinatoren von Stuttgart-21.

Es wird bei Kopfbahnhof-21 unter anderem gesagt, dass ein Durchgangsbahnhof mit 8 Gleisen niemals die erforderliche Kapazität und den selben Komfort wie ein Kopfbahn bieten werden. Es wird eine Haltezeit von 2 Minuten für Fernverkehrszüge genannt. Bei ca. 50 Zügen pro Stunde kann diese Rechnung jedoch niemals aufgehen. 50 Züge auf 8 Gleise aufgeteilt ergibt eine Haltezeit von knapp 10 Minuten. Im Berliner Ostbahnhof stehen für den Fern- und Nahverkehr 6 Gleise zur Verfügung. Von Hektik kann nie die Rede sein.
Außerdem würde es in einem solchen unterirdischen Bahnhof laut sein und stinken. Und dunkel wäre es zudem. Wer schon einmal im unterirdischen Teil des Berliner Hauptbahnhofes war, wird sagen müssen, dass es dort weder laut ist, noch stinkt und dunkel ebenfalls nicht ist.
Auf www.kopfbahnhof-21.de wird zudem gesagt, dass die Gleise und somit auch die Bahnsteige im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof eine Neigung von 15 Promille hätten. Dies kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich habe zudem noch nie einen größeren Bahnhof mit Gefälle gesehen. Woher die Information stammt, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.

Das Projekt Kopfbahnhof-21 geht auch auf die Zerstörung der Stadt ein. Wobei ich mir Gegenteiliges vorgestellt habe. Denn schließlich soll am Ende des Umbaus eine Fläche von mehr als einem Quadratkilometer als neue Stadtfläche entstehen. Die derzeitige Gleislandschaft hinter dem Hauptbahnhof ist mehr als hässlich und unattraktiv für angrenzende Wohn- oder Büroflächen. Um diesen Fakt geht es den Befürwortern von Kopfbahnhof-21 allerdings gar nicht. Sie sehen vielmehr die Stadt als Ganzes dem Untergang nahe – besonders finanziell gesehen. Der Vorteil einer kompletten Neuplanung eines innerstädtischen Gebietes – in zentraler Lage neben bzw. auf dem Hauptbahnhof – wird bei den Gegner völlig außer Acht gelassen.

Das Geld ist für die Gegner das große Streitthema überhaupt. Für die Alternative Kopfbahnhof-21 hat das Büro Vieregg&Rössler eine Kostenplanung erstellt, welche ca. nur 25 bis 35 Prozent der jetzigen Planung erreichen würde. Das ist klar. Wenn es gleich viel kosten würde, hätte man keine Argumente gegen die derzeitige Planung. Und es wäre ein Novum in der Geschichte, dass ein Projekt während der Bauphase nicht plötzlich teurer werden würde. Sich eine Alternative günstig rechnen zu lassen, ist ein einfaches Spiel.

In Berlin verhielt es sich mit dem neuen Hauptbahnhof ähnlich. Die Kosten waren plötzlich explodiert, das ganze Vorhaben als überzogen und überproportional abgetan. Vier Jahre nach der Eröffnung ist die Kritik verstummt. Die Berliner haben sich an die veränderten Streckenführungen gewöhnt. Für Touristen ist der Hauptbahnhof mittlerweile ein beliebtes und auch sehenswertes Ziel. Die Unternehmer und Geschäftsinhaber freuen sich über den großen Zustrom. Und die Kritiker sind verstummt, nachdem nun die Vorteile der kompletten Baumaßnahme sichtbar sind.
In Stuttgart steht jetzt erst einmal die Protestphase an. Dieser Tage wird vor dem Gebäude des Hauptbahnhofes lauthals demonstriert. Denn seit Montag stehen erste Abrissarbeiten an. Viele hoffen wohl darauf, dass das Projekt jetzt noch gestoppt werden kann. Die Unterstützer von Kopfbahnhof-21 genießen das aufgewühlte Interesse um ihr Projekt. Dumm nur, dass man damit (irgendwie) mit falschen Fakten hantiert. Das macht einen Protest nicht besser.

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5 Kommentare

  1. Tja, schade, daß dieser Artikel so fahrlässig mit Fakten und Argumenten herumwirft und daraus mit vielen Milchmädchenrechnungen ein ganz neues Märchen strickt.
    Man nehme nur die angeblichen 10 Minuten Haltezeit bei 50 Zügen pro Stunde auf 8 Gleisen. Und wie sollen die Züge an die Gleise kommen? Durch Tunnelzufahrten, nämlich ein Paar (Ein- und Ausfahrt) Gleise Richtung Vaihingen und ein Paar Richtung Ulm. Lassen Sie sich nicht durch die vier Gleise irritieren, die den Bahnhof an den Enden verlassen: In den abgegehenden Tunneln werden diese auf zwei Fernverkehrsgleise reduziert, zwei der Gleise sind jeweils nur für die Anbindung an den Abstellbahnhof vorgesehen.
    Siehe
    http://www.das-neue-herz-europas.de/de-DE/download/2005_Planfeststellungsbeschluss-Abschnitt_1.2-Fildertunnel.pdf , Seite 7, „1. Tunnelbauwerke“
    und http://www.das-neue-herz-europas.de/de-DE/download/PFA_1_5.pdf , Seite 153, „1.1.1 Fernbahnzuführungen“
    Darin ist der begründet, warum S21 einen Engpass im deutschen Bahnnetz schaffen würde – und warum es unrealistisch ist, daß die 480 Gleise * Minuten von den 50 vorgesehenen Zügen auch nur annähernd angefüllt werden könnten.
    (Übrigens sollen bei S21 mehr Züge durchgeschleift werden, d.h. der Abstellbahnhof ist für die meisten Züge höchstens eine kostspielige Ausweichmöglichkeit.)

    Das soll als Beispiel für die verbockte Argumentation dieses Artikels reichen. Ich möchte den Autor freundlich bitten, sich weiter kundig zu machen – die Planfeststellungsbeschlüsse sind frei herunterzuladen und sicherlich nicht von S21-Gegnern geschrieben. (Allerdings auch keine leichte Lektüre – in vielerlei Hinsicht.)

    Grüße
    Kuno

  2. Der Vergleich mit dem Berliner Ostbahnhof hinkt gewaltig. Die meisten Züge enden dort oder starten dort – darum stehen sie da auch länger. Durchgangsverkehr findet nur in Richtung Warschau, Minsk und Cottbus statt.
    Ein Vergleich mit dem flüssigen Durchgangsverkehr auf den acht Gleisen im unteren Teil des Berliner Hbf würde übrigens auch hinken. Denn oben drüber hat der Fernverkehr dort noch weitere vier Gleise zur Verfügung. Macht 12 Gleise. Ein ähnlicher Durchgangsverkehr wie dort würde sich in Stuttgart auf 8 Gleisen drängeln.
    Und was die Neuplanung des frei werdenden Geländes angeht: Wenn alle dort zu errichtenden Häuser so aussehen wie das LBBW- Areal, dann gruselt mich das. Und glauben sie ernsthaft, dass sich normale Menschen eine Wohnung in diesem Filetteil der Stadt leisten können? Und haben Sie schon mal überschlagen, wie alt sie persönlich sein werden, wenn all das fertiggestellt sein soll?
    Ich als häufiger Benutzer des Berliner Hauptbahnhofes könnte jetzt auch ellenlang über die dortigen Nachteile wie viel zu enge Bahnsteige, lange Umsteigewege (länger als im Stuttgarter Hbf) und eine immer noch unvorteilhafte Anbietung an den Berliner Nahverkehr dozieren. Ich lasse es aber.

  3. @ menno
    Mein Vergleich mit dem Berliner Ostbahnhof hinkt überhaupt nicht. Kein Zug steht dort auf Abruf. Der Ostbahnhof ist ein gewöhnlicher Durchgangsbahnhof mit normal kurzen Standzeiten.
    Und wenn Sie so oft in der Tiefebene des Berliner Hauptbahnhofes sind, sollten Sie wissen, dass die acht Gleise nur eine äußerst geringe Kapazität aufnehmen müssen.

    Mir persönlich ist es egal, ob ich 10 Jahre älter bin, bis der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes abgeschlossen ist. Dies ist ja eine Investition für kommende Generationen.
    Sind Sie auch sonst gegen jegliche Infrastrukturmaßnahme? Der Stuttgarter Flughafen könnte heute noch auf das Terminal 1 begrenzt sein. Super? Wohl kaum.

  4. Und was ist mit den Zügen Richtung Köln und Richtung Schweiz? Die starten ja wohl im Ostbahnhof und werden sehr wohl schon etwas länger vor der Abfahrt dort bereitgestellt. Na egal.
    Ich bin nicht gegen neue Infrastrukturprojetkte. Ich liebe die schnelle Verbindung von Stuttgart nach Köln. Auch die von Berlin nach Hamburg.
    Ich habe nur etwas gegen schlampig geplante Projekte. Und ich habe das Gefühl, dass Stuttgart 21 nicht besonders gut geplant ist. Außerdem können sie nicht verhehlen, dass auch das Flaggschiff Hbf Berlin nicht so fertiggebaut wurde, wie es der Architekt eigentlich geplant hat. Der Dach oben ist zu kurz und im unteren Bereich fehlt die komplette Wanderverkleidung. Das hat, zugegeben, keine Auswirkungen auf den Bahnbetrieb. Es zeigt aber trotzdem, dass man leider aus Zeit- und Geldgründen bereit ist, Großprojekte nicht hundertprozentig fertigzustellen. Fakt ist außerdem, dass die Bahnsteige oben im Hbf Berlin viel zu eng sind.
    Sie können sich ja ruhig mal informieren.
    Hier:
    http://www.der-fahrgast.de/Aktuell/Aktuell_1_2005/Stuttgart_21/stuttgart_21.html#2

    Oder hier:
    http://swrmediathek.de/player.htm?show=a9828cc0-a384-11df-96e4-00199916cf68

    Viele Grüße.

  5. Die 15 Promille Steigung kann man sich sehr gut vorstellen, wenn man sich das im Turm des HBFs ausgestellte Modell genau ansieht. Die Steigung ist deutlich zu erkennen. Rangieren ist damit in diesem Bahnhof (das best geplante Projekt aller Zeiten) unmöglich.
    Deswegen muss auch der Bodenbelag der Bahnsteige besonders ausgeführt werden, damit z.B. keine Kinderwagen oder Koffer (in die Gleise) wegrollen.

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